Leipzig ist schuld

Auf der Leipziger Messe. Pause beim Standaufbau. Es war nicht alles schlecht.

Gehen mir Menschen schon immer gegen den Strich? Kann sein. Natürlich gab es prägende Ereignisse, mit denen sich die Abneigung immer mehr manifestiert hat. Ein Beispiel, das ich schon oft erzählt habe, war die Games Convention in Leipzig. Das genaue Jahr weiß ich nicht mehr, es war irgendwann in den Nuller-Jahren. An alles andere kann ich mich dafür noch sehr genau erinnern. Das Folgende ist von vorne bis hinten wahr. Ich schwör‘s.

 

Kurze Vorgeschichte: Ich war damals als Marketeer angestellt bei einem namhaften Videogames-Publisher. Unser neuer Chef meinte, ein Team Building Event wäre gut für den Zusammenhalt. Der Meinung war nur er, denn das Team hielt zusammen wie Pech und Schwefel, nur den neuen Chef konnte keiner leiden. Wir saßen also in einem schicken Tagungshotel am Tegernsee, als mir ein eher wenig begabter Kellner die Tagesssuppe nicht servierte, sondern komplett über die Hose goss. Gott sei Dank war sie nicht sehr heiß. Ich schrieb daraufhin in den Hotelbewertungsfragebogen auf meinem Zimmer, dass der Service des Hauses „unter aller Sau“ sei, hatte sich der Kellner für sein Missgeschick doch nicht mal im Ansatz bei mir entschuldigt. Das war mein Fehler. Diesen Fragebogen auszufüllen. Denn der Hotelmanager sprach tags drauf mit unserem Geschäftsführer und gab ihm meinen Fragebogen zu lesen – woraufhin unser Chef sich für meine Ausdrucksweise beim Hotel entschuldigte und mir (wirklich wahr!) eine Abmahnung aussprach, weil ich doch unsere Firma repräsentierte und deswegen nicht solche Unflätigkeiten, noch dazu schriftlich, in der Geschäftswelt hinterlassen dürfte.

 

Paar Wochen später fuhr die komplette Firma zur größten Messe unserer Branche in Europa, der Leipziger Games Convention. Über hundert Nasen, sämtliche Helferlein, Spieleentwickler, Standpersonal, Messebauer, Techniker etc. eingerechnet. Alle untergebracht im besten Haus der Stadt, dem Hotel „The Westin“. Ein riesiger Kasten, zu DDR-Zeiten das Vorzeigehotel für mit Devisen bezahlende Messegäste aus dem Westen. Was Besseres. Damals. Das Personal war noch von damals. Mindestmotiviert und maximalfrustriert, wohl beleidigt, weil sie eben nicht mehr zur Elite des Landes gehörten, sondern nur noch Knechte kapitalistischer Übernachtungsausbeuter waren. Jedenfalls stand jedem Angestellten des Hauses eine unsägliche Unlust ins Gesicht geschrieben.

 

Mit anfangs erwähnter Abmahnung im Hinterkopf nahm ich mir vor, meine Stimme bei etwaigen Mängeln nicht im Geringsten zu erheben, auch wenn Vorstellung und Realität von 5-Sterne-Hotel-Service weiter auseinanderlagen als Ku‘damm und Alexanderplatz zu Zeiten der Berliner Mauer.

 

Los ging es bereits am Tag vor der Messe. Unser Stargast, einer der wichtigsten Games-Erfinder der Welt, wurde vom Praktikanten in eigens angemieteter Luxuslimousine vom Flughafen abgeholt und samt seiner Entourage zum Hotel chauffiert. Ich stand zufällig vor dem Eingang, eine rauchen, als der 7-er-BMW mit Sid Meier vorfuhr. Emsig mühte sich der Praktikant, die sämtlichen Gepäckstücke aus dem Kofferraum zu wuchten, um sie zur Rezeption zu schleppen. Da sah ich, wie ein eigens vor dem Hotel platzierter Angestellter sich der Szene näherte und freute mich schon über einen vermeintlichen Gepäckträgerservice, als ich den Pagen in feinstem Sächsich und bestem Stasi-Befehlston blöken hörte: „Fahren Sie sofort den Wagen weg. Hier ist Parkverbot.“ Sid Meier, Gott sei Dank des Deutschen nicht mächtig, schaute ein wenig verdattert und trollte sich ins Hotelinnere, während der Praktikant dienstbeflissen den Wagen in die Tiefgarage fuhr, um das restliche Gepäck eben dort zu entladen. Und ich dachte mir ‚das geht ja gut los‘.

 

Am Abend des gleichen Tages, nach anstrengenden Aufbau- und Einrichtearbeiten an unseren zwei Messeständen, traf sich das Team in der Hotelbar im Erdgeschoss, um den Tag bei einem Kaltgetränk entspannt ausklingen zu lassen. Weil Kellner weit und breit nicht zu sehen waren, ging ich selbst an die Bar, um dort einen Vodka mit Orangensaft zu bestellen. „Geht nicht“ war die lapidare Antwort der Getränkemischfachkraft. „Einfach nur Vodka mit Orangensaft, das sollte doch kein Problem sein, oder?“, fragte ich nach. Wieder war die Antwort: „Geht nicht“. – „Warum geht das nicht?“ – „Wir servieren Vodka nur mit frisch gepresstem Orangensaft“ – „Wunderbar, genau so einen hätte ich jetzt gern.“ – „Geht nicht.“ – „Warum nur?“ – „Ich habe die Orangenpresse schon geputzt.“ Ein schneller Blick auf die Uhr verriet mir, dass es schon kurz vor neun war. Zu solch später Stunde in einer Hotelbar (5 Sterne, schon erwähnt?), noch solch ausgefallene Wünsche zu äußern, das war zu viel erwartet. Grummelnd und an Chefs Abmahnung denkend schluckte ich meinen Ärger herunter, bestellte ein schlichtes Radeberger und gab mich damit zufrieden.

 

Am nächsten Tag lief – zumindest auf der Messe – alles reibungslos. Abends war der Plan, eines der unvermeidlichen Branchenbesäufnisse zu besuchen. Sony Standparty, Koch Party, Computerbild Party, irgendwie sowas. Da muss man sich ja sehen lassen, wichtigmachen, networken, umsonst essen und vor allem trinken. Vereinbart war ein gemeinsamer Aufbruch, Treffpunkt Hotelbar. Diesmal waren wir früher dran, ich versuchte erneut mein Glück und bestellte beim gleichen Barfräulein wieder einen Vodka mit Orangensaft. Und wieder kam als Antwort: „Geht nicht“. Ungläubig stammelte ich: „aber, äh, es ist doch erst 18 Uhr, haben sie die Presse etwa jetzt schon gereinigt?“ – „Ne. Vodka is alle“. – „DANN GEH ÜBER DIE STRASSE ZUR TANKE UND KAUF NE FLASCHE, DU DUMME SAU – ODER SOLL ICH WELCHEN AUS MEINER MINIBAR HOLEN?!?“ brüllte ich nicht, sondern dachte ich nur recht laut in mich hinein. In dem Moment fing das mit der Magensäure an, die sich fortan bei jeder kleinen Aufregung unangenehm brennend in meinem Bauch sammelte.

 

Nächster Abend, nächstes Bar-Erlebnis. Das Westin hat nicht nur die eine Bar im Erdgeschoss, sondern noch eine weitere im obersten Stockwerk, ich glaube, das 28. Gleiches Angebot, gleiche Miesepetrigkeit beim Personal, nur die Preise waren, wie die Bar selbst, höher. Wieder hatten wir einen recht anstrengenden Tag hinter uns und wollten noch einen Absacker nehmen. Diesmal waren nicht nur die deutschen Kollegen dabei, sondern auch noch internationale Gäste. So tummelte sich ein lustiges Vielvölkerrudel mit lieben Menschen aus England, Frankreich, Italien, Australien, USA usw. in der Bar. Mit dabei war der internationale Eventmanager Karl, seines Zeichens passionierter Rocker in entsprechender Montur. Schwarze Jeans, Kutte, Bart, eher sehr casual und gar nicht business like. Alle liebten und alle lieben Karl, weil er ein guter Kerl war und ist und auch immer sehr lustig. Vor allem, wenn es was zu trinken gab. Irgendwann hatte ich genug getrunken und bat Karl um einer einfacheren Spesenabrechnung Willen, die gesammelte Zeche mit seiner Firmenkreditkarte zu begleichen. Nichtsahnend und gut gelaunt verabschiedete ich mich von der lustigen Runde und ging zum Lift, um in mein Zimmer hinunter zu fahren. Vor der Lifttüre riss mich plötzlich jemand am Arm nach hinten. Optisch nicht weit entfernt vom klassischen NVA-Flintenweib an einem beliebigen innerdeutschen Grenzposten, platzte mich die Bardame an: „Wo wollen Sie denn hin?“ – „In mein Zimmer, vielen Dank.“ – „Ohne zu bezahlen?!?“ – „Die Rechnung übernimmt mein Kollege.“ – „Na das werden wir jetzt erst mal klären.“ Mit diesen freundlichen Worten zerrte mich die Alte zurück zum Tisch, an dem die Gamer-Internationale gerade zum letzten alkoholischen Gefecht ansetzte. „Wer übernimmt die Rechnung für den Herrn?!?“ keifte sie in die Runde. „Schßßßegal. Dsss geht alllles auf, äh, mich. Jawoll“, brachte Karl noch relativ verständlich heraus. Ich war sehr stolz auf ihn. Mit geschultem Blick für asozial-verdorbene Elemente des dekadenten Westens musterte die Bardame den lieben Karl und kam schnell zu ihrem Urteil. Die Frage, die sie stellte, hätte sie in jedem anständigen Hotel den Job gekostet, nicht aber im Westin Leipzig, da war das wohl normal: „Sind Sie sich sicher, dass Sie sich das leisten können?“. Karl schmiss einfach seine goldene Kreditkarte auf den Tisch, die beste Antwort, die man der Gans geben konnte. Beleidigt ließ sie mich los, so dass ich endlich den nächsten Lift Richtung Bett nehmen konnte.

 

In dem Aufzug, den ich betrat, sah ich ein bekanntes Gesicht. Der Hotelpage, der schon ein paar Tage zuvor keine Lust auf Dienst oder Leistung hatte, stand da neben einem sichtlich aufgebrachten Hotelgast. Letzterer zischte zynisch: „Ich finde das sehr nett, dass sie mir jetzt doch noch mit meinem Gepäck helfen.“ Was der Page darauf erwiderte, hätte ebenfalls in jedem anderen Hotel für eine fristlose Kündigung gereicht: „Das geht alles von meiner Freizeit ab.“ Resigniert sah mir der andere Hotelgast in die Augen, wir seufzten beide und gaben uns wehrlos dem Ende der Höflichkeit und des Service in der Hotellerie hin.

 

So verging kein Tag, an dem ich mich nicht über irgendeinen Mitmenschen ärgern musste und den Ärger immer brav unkommentiert herunterschluckte, um nicht noch meinen eigenen Job zu riskieren. Doch jedes Fass ist irgendwann so voll, dass es nur noch den sprichwörtlichen Tropfen braucht. Und jeder Magen hat nur eine bestimmte Kapazität für Magensäure.

Am letzten Messetag, nach einer guten Woche im besten Hotel Leipzigs, als alle Messegäste bewirtet, alle Spiele verkauft, alle T-Shirts an hysterische Fans verteilt waren, stand nur noch ein Punkt auf der To-Do-Liste: Abbau. Was in mehreren Monaten, in mindestens fünf Büros auf der ganzen Welt, mit einem hohen sechsstelligen Budget von Dutzenden Menschen akribisch geplant und gebaut wurde, sollte zwei Stunden nachdem die Türen der Leipziger Messe geschlossen waren, ordentlich getrennt auf die Müllhalde kommen. Zwei Stunden Zeit, zwei komplette Messestände abzubauen. Also, was noch zu gebrauchen war zu verpacken, bevor der paar hunderttausend Euro teure Rest tatsächlich einfach entsorgt wurde. Von wegen westlicher Dekadenz…

 

Kurz berockte Hostessen im Business-Bereich der Messe. Eine von ihnen trug nichts drunter. Unser Stand war sehr beliebt, vor allem bei den Einkäufern einer Ingolstädter Elektronik-Holding.

 

Unsere zwei Stände standen in verschiedenen Messehallen, einer im Business-, der andere im Publikumsbereich. Der Business-Teil war für das einfache Volk verboten. Pickelig-verschwitze Daddel-Dickies hatten keinen Zutritt, wo die Anzug tragende Videospiel-Elite ihre Deals machte, kurz berockten Hostessen auf den Arsch glotzte (und langte) und sich selbst unglaublich super fand. Um die strikte Trennung von Plebs und Chefs sicherzustellen, hatte die Messeleitung diverse Wachleute zwischen den Hallen postiert, die anhand am Hals der Chefs hängenden ID-Bagdes kontrollierten, wer zum „Business“ gehörte und in die Halle durfte. Weil ich ein Auge auf beide Stände werfen musste, war ich ständig zwischen den Hallen unterwegs. Um die Kontrolle zu beschleunigen, ging ich auf eines der Wachfräuleins zu, hob meinen Badge vor ihre Augen, deutete auf mein darauf gedrucktes Passbild und sagte zu ihr: „ich muss in den nächsten Stunden hier öfter durch, Abbau in beiden Hallen. Bitte merken Sie sich dieses Gesicht, ich darf in die Business Area. Okay?!?“. Leere Augen starrten durch mich hindurch und ich hatte den Eindruck, dass meine Worte in ihrem Schädel widerhallten, wie es Schallwellen in Hohlräumen eben tun. Weil ich ein wenig gehetzt war, vertraute ich (damaliger) Optimist darauf, dass meine Botschaft von irgendwelchen Rezeptoren im Kopf des Mädels aufgenommen und irgendwo gespeichert wurden, obwohl ich keine Antwort auf meine Frage bekam. Diese optimistische Blauäugigkeit, dieses Vertrauen in vermeintliche Intelligenz, das war tatsächlich mein Fehler. Gebe ich offen zu.

 

Beim nächsten Gang, vorbei an der Kontrolle, lächelte ich der Frau freundlich zu, in der falschen Annahme, sie würde sich an das einige Minuten zurückliegende „Gespräch“ mit mir erinnern. Pustekuchen. Als ich die Frau schon passiert hatte, spürte ich eine Hand in meinem Nacken. Die Hand griff nach dem Nylonband, an dem mein Identitäts-Badge hing, zog mit einem heftigen Ruck dran, so dass mir, um der Strangulation zu entgehen, nichts übrigblieb, als mich recht unelegant nach hinten zu beugen, fast so weit, dass es mich auf den Allerwertesten gesetzt hätte.

 

Ich verstehe ja viel Spaß. Und dass ich Frechheiten und Missstände kommentarlos ertragen kann, hatte ich in den Tagen davor öfter bewiesen, als es in diesem Text dokumentiert ist. Wenn aber jemand meint, sich nicht nur sprachlich, sondern auch physisch daneben benehmen zu müssen, da hört der Spaß auf. All der angestaute Ärger in meinem Kopf und meinem Magen, in Kombination mit dem Ruck an meinem Hals, muss nicht nur meine Laune, meine Contenance, sondern wohl auch meine Aura um circa 1,50 Meter aus dem Lot gebracht haben, denn an die nächste Szene – echt wahr – erinnere ich mich als „out of body experience“, also als wäre ich Zuschauer meiner selbst gewesen. War wohl emotional zu viel. Jedenfalls brüllte ich, inmitten diverser Kontrolleure (die heute garantiert alle bei Pegida mitrennen oder für die AfD im sächsischen Landtag sitzen) und zwischen vielen hektischen Messegästen, da brüllte ich also aus voller Kehle:

 

„WENN DU NICHT SOFORT DEINE BRATZEN DA WEG TUST, DANN HAU ICH DICH UM, DU STASI-SCHLAMPE!“

 

Die Szene war wirklich schräg. Tatsächlich hatte ich nicht darüber nachgedacht, was ich da rausbrülle. Erst danach wurde mir klar, dass das vielleicht nicht so nett war. Um die Wachdame und mich stand ein ganzer Pulk von Menschen. Weitere Wachleute und viele, hektische Messegäste, die von meinem Geschrei aufgeschreckt plötzlich stehen blieben und wissen wollten, was da los ist. Jedenfalls war es für einen Moment absolut ruhig im ansonsten recht lauten Messegetummel. Kurz schoss mir ein glücklicherweise unbegründeter Angstgedanke durch den Kopf: ‚Jetzt lyncht dich der Ost-Mob.‘ Weit gefehlt, denn plötzlich wurde die Stille von immer mehr Gemurmel der Messegäste erfüllt. „Endlich sagt mal jemand was!“ hörte ich da, oder „Echt wahr, blödsinnige Kontrolle.“ Die Gelegenheit war günstig und ich machte mich davon. Hatte ja auch noch gut zu tun. Kontrolliert wurde ich nicht mehr.

 

Ein paar Jahre später zog die Spielemesse um nach Köln, wo sie bis heute jährlich als GamesCom stattfindet. Zur Vorbereitung fuhr ich mit ein paar Kollegen in die Rheinmetropole, wir übernachteten im Radisson direkt an der KölnMesse. Zum Rheinländer hatte und habe ich kein sonderlich gutes oder schlechtes Verhältnis, ging also ohne irgendwelche Erwartungen an die Bar des Radisson zum ultimativen Hoteltest: „Ich hätte gerne einen Vodka mit Orangensaft.“ – „Gern. Mit oder ohne Fruchtfleisch oder mit frisch gepresstem Saft?“ – „Äh, frisch gepresst, bitte.“ – „Und mit welchem Vodka? Wir haben Absolut, Finlandia, Grey Goose, Gorbatschow …“ Na also. Es geht doch.