
Auch wenn es irgendwelche Harrys schon lang vor mir getan haben, muss ich mich hier auslassen über das Volksfest, das mal unsere Wiesn war. Lang ist’s her, als es ein Fest war für das Münchner Volk. Damals, als es noch keine Tchibo-Lederhosen gab.
Schuld ist zum Beispiel RTL 2. Der Titten-Trash-Sender begann irgendwann in den 90er-Jahren mit Live-Programm vom Oktoberfest, hauptsächlich um besoffene Australierinnen zu filmen, die auf den Tischen tanzend bereitwillig ihre Möpse in die Kamera hielten. Das hat sich dann rumgesprochen, dass im Hofbräuzelt Bajuwaren-Ballermann ist, nur mit noch weniger Niveau, weil mehr Bier. Da musste man hin, zum „Event“. Und wie es sich für ein Event gehört, musste man sich dafür auch verkleiden. Leider ist das ein wenig aus dem Ruder gelaufen mit den alpinen Event Outfits. Paar altdeutsche Schriftzeichen auf einen Kartoffelsack gedruckt, „Landhausmode“ drunter geschrieben und fertig war das exklusive Bussi-Schnepfen-Gewand fürs Käferzelt. Schlimm.
Vor drei Jahren war ich zum letzten Mal auf der Wiesn, zum Anstich im Paulanerzelt. Eine Freundin hatte einen Tisch ergattert. Gelegenheit günstig, gehen wir halt hin. Vorher noch den Einzug der Wiesnwirte angeschaut. Neben mir standen sonderbare Gestalten. Ein Preissn-Paar. Er in einer silbernen Lederhose, als hätte er sie mit Autolack eingesprüht, inklusive silberner Haferlschuh. Auf dem Kopf eine Baseball-Cap. Traditionell halt. Für die Loveparade vielleicht. Sie hatte wenigstens ein Dirndl an, auch wenn es ein recht billiges war. Als ein Gespann vorbeifuhr und die Goaßlschnalzer auf dem Wagen ihre Peitschen knallen ließen, wurde die Frau neben mir plötzlich ungehalten: „Also nein, das geht doch nicht, die armen Tiere. Das muss denen doch weh tun. Ich kann mir das nicht länger mit ansehen.“ – „Na schleich dich, is gscheider“, hab‘ ich mir gedacht.
Kurz drauf im Zelt, wir waren gerade am Tisch angekommen, als mit gehörigem Pomp der Wirt nebst Gattin und den Jodelikonen Marianne und Michael einlief. Zum bairischen Defiliermarsch natürlich. Die Älteren erinnern sich an das Traumpaar der bajuwarisch-volkstümlichen Schlager-Szene. Die gute Marianne konnte man wegen diverser plastisch-chirurgischen Verschlimmbesserungen im Antlitz leider nicht mehr wirklich erkennen. Fesch gmacht für die Wiesn halt. Kaum waren die Prominenten im Zelt und die zwölf Böllerschüsse verklungen, kamen schon die Bedienungen angewuselt, um Bestellungen aufzunehmen. Unsere hieß Grit und kam aus Mecklenburg.
Als dann die Mass (ja, Mass, nicht Maß. Sacklzement!) vor mir stand, war ich kurzfristig versöhnt mit der Welt und der Wiesn und sogar den Mitmenschen um mich rum. Bis ich noch mal hinsah. Der Nachbartisch bog sich bereits unter der Last einer kompletten Bestellung sämtlicher Speisen, die auf der Karte standen. Geordert hatte ein russischer Oligarch, der mit seinem Gefolge ganze zwei Tische einnahm. Gegessen hat niemand, nur mal probiert. Man war ja schließlich zum Trinken da. Und auch der Russe weiß mittlerweile, dass man sich zum Oktoberfest-Besäufnis gefälligst zu verkleiden hat. Nur wie, das hat sich noch nicht bis Sibirien herumgesprochen. So saßen diverse Nordmänner neben uns. Mit Horn-Helmen und allem, was dazugehört für eine Laien-Aufführung von Wickie und die starken Männer. Bisschen bizarr.
Kaum hatte ich mich über die Russen zu Ende geärgert, schlenderten diverse Angelsachsen an uns vorbei in einem schrägen, pseudo-alpinen Gewand aus Filz, inkl. Filzhut. Neugierig, wie ich bin, schnappte ich mir einen auf dem Weg zum Pissoir, weil ich wissen wollte, ob der Angermeier jetzt schon Wegwerftrachten für einen Fünfer verkauft. Weit gefehlt. Es handelte sich um im Vereinigten Königreich durchaus übliche Weihnachtselfen-Kostüme, die man wegen der (nur für Inselaffen erkennbaren) Lederhosenanmutung schnell übergeworfen hatte, um dazu zu gehören. Na dann, Merry Christmas und Prost, Mates!
Zurück zum unmittelbaren Erlebnis rund um unseren Wiesn-Tisch. Noch ein bizarrer Höhepunkt, zumindest für einen Beteiligten: das Pärchen, das zwei Tische weiter ausführliche S/M-Spielchen trieb. Er ließ, auf dem Tisch stehend, einfach mal die Hose runter, überreichte seiner Holden seinen Ledergürtel, den sie mit Verve verwendete, um ihm ordentlich den blanken Hintern zu peitschen.
Was von der Szenerie ablenkte, war eine Gruppe nicht näher zu identifizierender Besucher, die einen freien Tisch suchten. Süß. Vier oder fünf Leute, angezogen als Obst. Ernsthaft. Obst. Eine Banane, eine Melone, eine Birne, eine Ananas stand da plötzlich. Hätte nur noch gefehlt, dass die Kapelle „Tutti Frutti“ spielt.
Ich suchte Trost im Bier. Doch der Krug war fast leer und lacke Noagerl trink ich nicht. Schließlich sagte schon der Vater: „geh weg mit dem Lampesoach“. (Lampesoach = Markierung eines Hundes an der Straßenlaterne). Schon war sie da, die gute Grit. „Bringst mir noch eine Mass, bittschön“, bat ich sie. „Jetzt gibt’s nix mehr, ist schon nach drei“, war ihre Antwort. Weil nämlich die nächsten Gäste um 16 Uhr den Tisch reserviert hatten, mussten wir gehen. Nach drei Stunden.
Und das war’s für mich. Die Wirte reservieren ihre Tische jetzt nämlich in drei Schichten am Tag. Der Kommerz hat die Gemütlichkeit endgültig getötet. Aus, vorbei, geh ich nicht mehr hin. Allen anderen viel Spaß.
P.S., von wegen „o’gschbiem“ noch ein Internetz-Tipp: http://muenchenkotzt.de/index2010.html – immer wieder schön. Auf eine friedliche Wiesn!